Lessings ›Ringparabel‹ aus seinem ›dramatischen Gedicht‹ Nathan der Weise (1779) gehört zu den meistzitierten Passagen seiner Schriften. Sie gilt als Schlüsseltext der Aufklärung, weil die in ihr geschilderte Erzählung von den drei Ringen die Idee der Toleranz prägnant auf den Punkt bringt. Die Parabel wurde durch zahlreiche Texte der europäischen Literaturgeschichte überliefert und findet sich etwa in der frühen italienischen Novellensammlung Il Novellino (13. Jhd.), in Giovanni Boccaccios Decamerone (1349‒1353), in der spätmittelalterlichen Exempelsammlung Gesta Romanorum (14. Jhd.) sowie im Schevet Jehuda (1554) von Salomo ibn Verga. Lessing waren diese Quellen bekannt. In einem Brief an seinen Bruder Karl nennt er Boccaccio als Inspirationsquelle für sein Drama.
Vor grauen Jahren lebt’ ein Mann in Osten
Beginn der ›Ringparabel‹
Der einen Ring von unschätzbarem Werth’
Aus lieber Hand besaß.
Während in der berühmten ›Ringparabel‹ von drei Ringen die Rede ist, die für die Religionen Christentum, Islam und Judentum stehen, wendet sich Lessing in Die Parabel (1778) der Religion aus einer anderen Perspektive zu. Mit dem kurzen Text eröffnet er seine Polemik gegen den Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze (1717‒1786) im sogenannten ›Fragmentenstreit‹, der aus heutiger Sicht als eine der wichtigsten theologischen Auseinandersetzungen des 18. Jahrhunderts gilt. In der Parabel vergleicht Lessing die Religion mit einem Palast, an dem über Jahrhunderte hinweg gebaut wurde. Von diesem alten Gebäude gibt es, so glaubt man, verschiedene Grundrisse, versehen mit Worten und Zeichen, deren Sprache und Charakteristik allerdings nicht überliefert sind. Man legt diese Grundrisse nach eigenem Gefallen aus, und als es eines Tages heißt, dass der Palast Feuer gefangen habe, da rettet man zuerst die Grundrisse und überlässt das Gemäuer den Flammen.
Nathan der Weise (1779)
Im Gegensatz zur Palast-Metapher in Die Parabel rückt Lessing in seinem Drama Nathan der Weise die Idee der Toleranz in den Fokus. Frühe Spuren dieser Idee finden sich in allen drei religiösen Kultursphären (Christentum, Islam, Judentum), die im Drama eine Rolle spielen. Lessing ist diesen Spuren gefolgt. Hinweise finden sich sowohl im Dramentext als auch andernorts in seinen Schriften. Mit der ›Ringparabel‹ greift er nicht nur auf die christlich-abendländische Tradition, sondern auch auf jüdische Kontexte zurück, etwa auf eine Anekdote aus dem Schevet Jehuda (1551) des spanisch-portugiesischen Arztes Salomo ibn Verga (um 1500), in der wiederum der Ring als Zeichen für Toleranz gilt. Schon in Antike und Mittelalter werden Frühformen der ›Ringparabel‹ niedergeschrieben und diskutiert. Diese lange Geschichte unterstreicht nicht nur die enorme Bedeutung des Nathan und seiner Parabel, die auch noch im 21. Jahrhundert so aktuell ist wie 1779. In der Tat führt die vielschichtige Tradition zudem vor Augen, dass die Literatur im interkulturellen Bemühen um Toleranz und Wahrheit eine bedeutende Stimme besitzt.
Sie sinds! sie sind es, Sittah, sind! Sie sinds!
Nathan der Weise (Auftritt 5/8)
Sind beide meines … deines Bruders Kinder!
Die Lessing-Akademie stellt die ›Ringparabel‹ hier in über 30 Sprachen als Download zur Verfügung:
Die Parabel (1778)