»Der Begriff ist der Mann; das sinnliche Bild des Begriffes ist das Weib; und die Worte sind die Kinder, welche beide hervorbringen.«Anti-Goeze

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Lessings ›Ringparabel‹ aus seinem ›dramatischen Gedicht‹ Nathan der Weise (1779) gehört zu den meistzitierten Passagen seiner Schriften. Sie gilt als Schlüsseltext der Aufklärung, weil die in ihr geschilderte Erzählung von den drei Ringen die Idee der Toleranz prägnant auf den Punkt bringt. Die Parabel findet sich bereits in der 73. Novelle der Il Novellino (13. Jhd.) sowie in Giovanni Boccaccios Decamerone (1349‒1353).

Vor grauen Jahren lebt’ ein Mann in Osten
Der einen Ring von unschätzbarem Werth’
Aus lieber Hand besaß.

Beginn der ›Ringparabel‹

Während in der berühmten ›Ringparabel‹ von drei Ringen die Rede ist, die für die Religionen Christentum, Islam und Judentum stehen, wendet sich Lessing in Die Parabel (1778) der Religion aus einer anderen Perspektive zu. Mit dem kurzen Text eröffnet er seine Polemik gegen den Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze (1717‒1786) im sogenannten ›Fragmentenstreit‹, der aus heutiger Sicht als eine der wichtigsten theologischen Auseinandersetzungen des 18. Jahrhunderts gilt. In der Parabel vergleicht Lessing die Religion mit einem Palast, an dem über Jahrhunderte hinweg gebaut wurde. Von diesem alten Gebäude gibt es, so glaubt man, verschiedene Grundrisse, versehen mit Worten und Zeichen, deren Sprache und Charakteristik allerdings nicht überliefert sind. Man legt diese Grundrisse nach eigenem Gefallen aus, und als es eines Tages heißt, dass der Palast Feuer gefangen habe, da rettet man zuerst die Grundrisse und überlässt das Gemäuer den Flammen.

Die Parabel


Titelblatt der Erstausgabe

Nathan der Weise (1779)
Im Gegensatz zur Palast-Metapher in Die Parabel rückt Lessing in seinem Drama Nathan der Weise die Idee der Toleranz in den Fokus. Frühe Spuren dieser Idee finden sich in allen drei religiösen Kultursphären (Christentum, Islam, Judentum), die im Drama eine Rolle spielen. Lessing ist diesen Spuren gefolgt. Hinweise finden sich sowohl im Dramentext als auch andernorts in seinen Schriften. Mit der ›Ringparabel‹ greift er nicht nur auf die christlich-abendländische Tradition, sondern auch auf jüdische Kontexte zurück, etwa auf eine Anekdote aus dem Schevet Jehuda (1551) des spanisch-portugiesischen Arztes Salomo ibn Verga (um 1500), in der wiederum der Ring als Zeichen für Toleranz gilt. Schon in Antike und Mittelalter werden Frühformen der ›Ringparabel‹ niedergeschrieben und diskutiert. Diese lange Geschichte unterstreicht nicht nur die enorme Bedeutung des Nathan und seiner Parabel, die auch noch im 21. Jahrhundert so aktuell ist wie 1779. In der Tat führt die vielschichtige Tradition zudem vor Augen, dass die Literatur im interkulturellen Bemühen um Toleranz und Wahrheit eine bedeutende Stimme besitzt.

Kolorierter Kupferstich eines unbekannten Künstlers. In: Gothaer Theaterkalender auf das Jahr 1782 [Auftritt 5/8].

Sie sinds! sie sind es, Sittah, sind! Sie sinds!
Sind beide meines … deines Bruders Kinder!

Nathan der Weise (Auftritt 5/8)
Titelblatt der Erstausgabe

Die Parabel (1778)

Ein weiser, thätiger König eines großen großen Reiches, hatte in seiner Hauptstadt einen Pallast von ganz unermeßlichem Umfange, von ganz besonderer Architektur.

Unermeßlich war der Umfang, weil er in selbem alle um sich versammelt hatte, die er als Gehülfen oder Werkzeuge seiner Regierung brauchte.

Sonderbar war die Architektur: denn sie stritt so ziemlich mit allen angenommenen Regeln; aber sie gefiel doch, und entsprach doch.

Sie gefiel: vornehmlich durch die Bewunderung, welche Einfalt und Größe erregen, wenn sie Reichthum und Schmuck mehr zu verachten, als zu entbehren scheinen.

Sie entsprach: durch Dauer und Bequemlichkeit. Der ganze Pallast stand nach vielen vielen Jahren noch in eben der Reinlichkeit und Vollständigkeit da, mit welcher die Baumeister die letzte Hand angelegt hatten: von aussen ein wenig unverständlich; von innen überall Licht und Zusammenhang.

Was Kenner von Architektur seyn wollte, ward besonders durch die Aussenseiten beleidiget, welche mit wenig hin und her zerstreuten, großen und kleinen, runden und viereckten Fenstern unterbrochen waren; dafür aber desto mehr Thüren und Thore von mancherley Form und Größe hatten.

Man begriff nicht, wie durch so wenige Fenster in so viele Gemächer genugsames Licht kommen könne. Denn daß die vornehmsten derselben ihr Licht von oben empfiengen, wollte den Wenigsten zu Sinne.

Man begriff nicht, wozu so viele und vielerley Eingänge nöthig wären, da ein großes Portal auf jeder Seite ja wohl schicklicher wäre, und eben die Dienste thun würde. Denn daß durch die mehrern kleinen Eingänge ein jeder, der in den Pallast gerufen würde, auf dem kürzesten und unfehlbarsten Wege, gerade dahin gelangen solle, wo man seiner bedürfe, wollte den wenigsten zu Sinne.

Und so entstand unter den vermeynten Kennern mancherley Streit, den gemeiniglich diejenigen am hitzigsten führten, die von dem Innern des Pallastes viel zu sehen, die wenigste Gelegenheit gehabt hatten.

Auch war da Etwas, wovon man bey dem ersten Anblicke geglaubt hätte, daß es den Streit notwendig sehr leicht und kurz machen müsse; was ihn aber gerade am meisten verwickelte, was ihm gerade zur hartnäckigsten Fortsetzung die reichste Nahrung verschaffte. Man glaubte nehmlich verschiedne alte Grundrisse zu haben, die sich von den ersten Baumeistern des Pallastes herschreiben sollten: und diese Grundrisse fanden sich mit Worten und Zeichen bemerkt, deren Sprache und Charakteristik so gut als verloren war.

Ein jeder erklärte sich daher diese Worte und Zeichen nach eignem Gefallen. Ein jeder setzte sich daher aus diesen alten Grundrissen einen beliebigen Neuen zusammen; für welchen Neuen nicht selten dieser und jener sich so hinreissen ließ, daß er nicht allein selbst darauf schwor, sondern auch andere darauf zu schwören, bald beredte, bald zwang.

Nur wenige sagten: »was gehen uns eure Grundrisse an? Dieser oder ein andrer: sie sind uns alle gleich. Genug, daß wir jeden Augenblick erfahren, daß die gütigste Weisheit den ganzen Pallast erfüllet, und daß sich aus ihm nichts, als Schönheit und Ordnung und Wohlstand auf das ganze Land verbreitet.«

Sie kamen oft schlecht an, diese Wenigen! Denn wenn sie lachenden Muths manchmal einen von den besondern Grundrissen ein wenig näher beleuchteten, so wurden sie von denen, welche auf diesen Grundriß geschworen hatten, für Mordbrenner des Pallastes selbst ausgeschrien.

Aber sie kehrten sich daran nicht und wurden gerade dadurch am geschicktesten, denjenigen zugesellet zu werden, die innerhalb des Pallastes arbeiteten, und weder Zeit noch Lust hatten, sich in Streitigkeiten zu mengen, die für sie keine waren.

Einsmals, als der Streit über die Grundrisse nicht sowohl beygelegt, als eingeschlummert war, ‒ einsmals um Mitternacht erscholl plötzlich die Stimme der Wächter: Feuer! Feuer in dem Pallaste!

Und was geschah? Da fuhr jeder von seinem Lager auf; und jeder, als wäre das Feuer nicht in dem Pallaste, sondern in seinem eignen Hause, lief nach dem Kostbarsten, was er zu haben glaubte, ‒ nach seinem Grundrisse. »Laßt uns den nur retten! dachte jeder. Der Palast kann dort nicht eigentlicher verbrennen, als er hier stehet!«

Und so lief ein jeder mit seinem Grundrisse auf die Straße, wo, anstatt dem Pallaste zu Hülfe zu eilen, einer dem andern es vorher in seinem Grundrisse zeigen wollte, wo der Palast vermuthlich brenne. »Sieh, Nachbar! hier brennt er! Hier ist dem Feuer am besten beyzukommen. ‒ Oder hier vielmehr, Nachbar; hier! ‒ Wo denkt ihr beide hin? Er brennt hier! ‒ Was hätt es für Noth, wenn er da brennte? Aber er brennt gewiß hier! ‒ Lösch ihn hier, wer da will. Ich lösch ihn hier nicht. ‒ Und ich hier nicht! ‒ Und ich hier nicht!« ‒

Ueber diese geschäftigen Zänker hätte er denn auch wirklich abbrennen können, der Pallast; wenn er gebrannt hätte. ‒ Aber die erschrocknen Wächter hatten ein Nordlicht für eine Feuersbrunst gehalten.

G. E. Lessing: Die Parabel, in: ders.: Sämtliche Schriften, hg. von Karl Lachmann, 3., aufs neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker, Bd. 1–23, Stuttgart [u.a.], 1886–1924, Bd. 13, S. 93-96.

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