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Preisträgerin Vanessa Vu
© Peter Sierigk

Vanessa Vu hat den am 8. Mai 2022 im Lessingtheater Wolfenbüttel verliehenen Lessing-Preis für Kritik erhalten. Mit dem gemeinsam von der Braunschweigischen Stiftung, der Stadt Wolfenbüttel und der Lessing-Akademie vergebenen Preis wird, nach dem Vorbild Lessings, Kritik in einem elementaren, fachübergreifenden, auch gesellschaftlich wirksamen Sinn ausgezeichnet: Kritik als bedeutende, geistig und institutionell unabhängige, risikofreudige Leistung.

In ihrer Dankrede erinnerte Vu an ihre eigene Rolle im Journalismus. Für sie sei der Widerspruch »Mehr sein müssen, aber irgendwie nicht können« ein ständiger Begleiter in ihrem Leben gewesen. So habe sie sich immer wieder die Frage gestellt: »Was mache ich hier eigentlich?« Schließlich gehöre sie als Tochter vietnamesischer Einwanderer zu einer Gruppe von Menschen, deren Existenz stets »verhandelbar« gewesen sei. Menschen wie sie würden nicht kritisieren, sondern dankbar sein. Das Gefühl, nicht dazu zu gehören, sei stets ein Teil ihres Lebens gewesen und sei damit ein Teil ihrer Identität. Es falle ihr schwer, betonte Vu, sich als »große Denkerin mit lauter Stimme« zu verstehen. Denn Menschen, die laut kritisierten, säßen doch eher in »holzvertäfelten Bibliotheken und nicht vor Smartphones«.

Vanessa Vu, 1991 geboren, verbrachte ihre ersten Jahre in einem Asylbewerberheim im niederbayerischen Pfarrkirchen. Nach dem Abitur studierte sie Ethnologie, Völkerrecht, Südostasien-Studien und Sozialwissenschaften an Universitäten in München, Paris und London. Sie besuchte die Deutsche Journalistenschule in München und war Stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung. Seit 2017 arbeitet Vu als Redakteurin bei ZEIT ONLINE. Zusammen mit Minh Thu Tran hostet sie seit 2018 den mehrfach ausgezeichneten Podcast Rice and Shine. Zudem tritt Vu als Speakerin und Moderatorin auf, gibt Workshops rund um Journalismus und Podcasting und lädt seit 2021 Gäste in ihr ›Klassenzimmer‹ an der Berliner Schaubühne ein.

»Meine Freude war und ist aber auch immer wieder davon getrübt, dass ich eine Ausnahmeerscheinung war und bin.« Eine außergewöhnliche Aufsteigerbiografie wie die ihrige, erklärte Vu, sei zugleich ein Armutszeugnis. Denn der objektive Erfolg von Einzelpersonen sei nur der »Gute-Laune-Teil« einer Gesellschaft, der es bis heute kaum gelungen sei, für »Chancengleichheit und fair verteilte Teilhabe zu sorgen«. Herausragende Aufsteigergeschichten würden den Blick verstellen für die tatsächlichen Verhältnisse, für die hohen Kosten eines sozialen Aufstiegs. Und doch, hob Vu hervor, »wäre es zu einfach, geschichtsvergessen und kontraproduktiv, jede Schuld auf eine diskriminierende Gesellschaft abzuwälzen oder sie auf eine einzelne Person zu übertragen«.

Ihrem einzigartigen Lebensweg, so Vu, lasse sich auch etwas Positives abgewinnen. Denn aus der Außenseiterrolle könne man Kraft schöpfen. Deshalb nehme sie den Lessing-Preis für Kritik vor allem als Erinnerung an das entgegen, was sie wirklich gerne tue – aus einer »entrückten Position heraus zu denken, zu hinterfragen, zu schreiben und zu sprechen.«

Flankiert wurde die Preisverleihung mit einem Ausschnitt aus der preisgekrönten Podcast-Folge Hamburg 1980: Als der rechte Terror wieder aufflammte. In ihr rekonstruieren Minh Thu Tran und Vanessa Vu den Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft in der Hamburger Halskestraße am 22. August 1980, bei dem zwei junge Männer aus Vietnam, Nguyễn Ngọc Châu (22) und Đỗ Anh Lân (18), starben. Der Fall gilt als der erste rassistische Mord der BRD. Tran und Vu sprechen in ihrem Podcast unter anderem mit der Mutter eines der Opfer, mit Überlebenden des Anschlags sowie mit den damaligen Paten der beiden Männer, Gisela und Heribert von Goldammer.

»Wo endet Anerkennung, wo beginnt die kulturelle Aneignung?«, fragte Bascha Mika in ihrer Laudatio und griff damit die Folge Ist das noch Phở oder schon respektlos? aus dem Podcast Rice and Shine auf, in der Minh Thu Tran und Vanessa Vu über kulinarischen Austausch auf Augenhöhe diskutieren. Mika betonte, dass die beiden Journalistinnen sich in allen Folgen mit Phänomenen der gesellschaftlichen Spaltung und ihrer Überwindung beschäftigten – immer »professionell, nach allen Regeln der Podcast-Kunst«. In Rice and Shine, so Mika, gehe es jedoch vor allem um Verstehen und Erkennen, aber auch um Einfühlung.

Lessing hätte diese Haltung gefallen, beteuerte Mika. Habe er doch stets für Toleranz gestritten und die gängige Diskriminierung der Mehrheitsgesellschaft entlarvt. Mika bekräftigte die Notwendigkeit, journalistische Aufklärung im Lessing’schen Sinne zu verstehen: als unentwegtes Suchen, als ständiges Hinterfragen. Und genau diese Eigenschaften zeichneten Vus Arbeiten aus. Sie unterziehe die gegenwärtigen Verhältnisse einer scharfen Kritik, stoße Diskurse an, eröffne neue Perspektiven und sei in diesem Sinne wie viele andere Journalist:innen eine »Heldin der Aufklärung«. Entscheidend trage Vu zur notwendigen Vielfalt der Stimmen im Journalismus bei.

Auf den Namensgeber des Preises kam auch Cord-Friedrich Berghahn, Jury-Mitglied und Präsident der Lessing-Akademie, in seiner Begrüßungsrede zu sprechen. Er unterstrich die zentrale Bedeutung der Kritik in Lessings Leben und Werk. Lessing habe im Verbund mit seinen Berliner Freunden Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn den Begriff der Kritik nachhaltig verändert und in gewisser Weise eine »Revolution der Kritik« begründet. Kritik sei von ihnen nicht mehr im Sinne der Tradition der Aufklärung als gegründetes Urteil oder Kennerschaft verstanden worden, sondern als »Intervention«. Dieses neuartige Verständnis sei stets an eine kritische Öffentlichkeit gerichtet gewesen – eine Konstellation, die sich unmittelbar auf die heutige Situation übertragen lasse.

Förderpreisträger:innen Moshtari Hilal (rechts) und Sinthujan Varatharajah
© Peter Sierigk

Ivica Lukanic, Bürgermeister von Wolfenbüttel, schloss in seinem Grußwort an diesen Gedanken an. Der Lessing-Preis für Kritik führe den Lessing’schen Gedanken fort, indem mit seiner Vergabe »Kritik im öffentlichen Diskurs« gewürdigt werde. Wie Lessing einst in seinen Schriften, so fordere auch die Preisträgerin Vanessa Vu mit ihren Arbeiten die Öffentlichkeit zur Selbstreflexion auf. Lukanic erklärte, dass die Verleihung des Lessing-Preises für Kritik an Vu zeige, »dass man sich mit der Darstellung der Lebenswelten einer vielfältigen Gesellschaft« Gehör verschaffen könne und müsse.

Corinna Fischer, Leiterin der Abteilung Kultur und Erwachsenenbildung des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur, hob in ihrem Grußwort die Verbindungslinien zwischen Vu und Lessing hervor. Die Preisträgerin fokussiere – wie einst Lessing – »mit allen Sinnen« die Geschichten derer, »die nicht in der ersten Reihe stehen«. Durch sorgfältige Inszenierungen konfrontiere Vu das öffentliche Publikum mit unerwarteten Fragen und halte so der Gesellschaft den Spiegel vor. »Das ist Kritik im übergreifenden Lessing’schen Sinne«, so Fischer.

Die von der Preisträgerin nominierten Förderpreisträger:innen Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah gaben im Rahmen ihrer Dankworte einen Einblick in ihre Arbeitsweise. Bewusst würden sie sich zwischen den Disziplinen und in unterschiedlichen Medien bewegen. Kritik, verdeutlichte Hilal, dürfe nicht vorbehalten sein für Menschen, die ein Expertentum für sich beanspruchen oder in privilegierten Räumen verkehren würden. »Kritik sollte jeden was angehen, egal wie gebrochen das Deutsch, wie fehlerhaft die Grammatik ist oder wo die Kritik stattfindet.«

Die vielfach genannten Anknüpfungspunkte an den Namensgeber Lessing unterstrich das aus Litauen stammende Mettis Quartet musikalisch mit einer Mischung aus Klassik und Moderne. Die Schauspielerin Kathrin Reinhardt rezitierte als Pro- und Epilog der Veranstaltung Passagen aus Lessings Schriften.

Hinweis: Die Begründung der Jury sowie weitere Fotos von der Veranstaltung sind hier einsehbar. Die Lessing-Akademie wird demnächst eine Dokumentation der Preisverleihung veröffentlichen.

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