Gotthold Ephraim Lessings Trauerspiel Emilia Galotti ist fester Bestandteil des klassischen Kanons. Die tragische Geschichte um das tugendhafte Bürgermädchen wird nach wie vor auf vielen großen und kleinen Theaterbühnen gezeigt. Schon früh hat sie neben wenigen anderen klassischen Schauspielen den Weg in die Schule gefunden und seit ihrer Uraufführung am 13. März 1772 in Braunschweig ist sie immer wieder Gegenstand kontroverser Diskussionen gewesen.
Denn dass ein vermeintlich rechtschaffener Vater den Tod seiner einzigen Tochter in Kauf nimmt, um ihre Ehre als junge Frau und die Ehre der Familie zu retten, war schon vielen Zeitgenossen Lessings ein Dorn im Auge. Doch dem Erfolg der Story hat weder die damalige noch die heutige Kritik kaum etwas anhaben können, zumal Lessings Theaterstück – damals wie heute – zugleich unentwegt mit allerlei Lobeshymnen gewürdigt worden ist.

Wie die Schauspielerinnen und Schauspieler bei der ersten Inszenierung im Opernhaus am Hagenmarkt in Braunschweig, so hat auch das Stück in seiner 250-jährigen Geschichte oftmals die Kleider gewechselt. Ob auf der Theaterbühne oder der Kinoleinwand – Emilia stand und steht Pate für das Ringen der jungen Frau zwischen Selbstbestimmung und traditionellen Normen, zwischen dem individuellen, persönlichen Recht auf Freiheit und der Willkür lüsterner Männlichkeit.
Die Haltung, die das Publikum während der Theateraufführung, im Kinosessel oder bei der Lektüre daheim einnehmen kann oder sogar einnehmen soll, hat Lessing in seiner Emilia selbst zum Thema gemacht, indem er den Prinzen Hettore Gonzaga mit seinem Maler Conti über Macht und Bedeutung von Kunst diskutieren lässt. Dass der eigentlich gescheite Prinz sich in Gegenwart des Gemäldes, auf dem die schöne Emilia abgebildet ist, dazu hinreißen lässt, die junge Frau mit ihrem Gemälde gleichzusetzen (»Ah! schönes Werk der Kunst, ist es wahr, daß ich dich besitze?«), und seine Gier anschließend vom Gegenstand auf die Person überträgt, zeigt einmal mehr den Blickwinkel Lessing’scher Kritik: nämlich die Tatsache, dass auch er – der Fürst – in erster Linie Mensch ist (»Ist es, zum Unglücke so mancher, nicht genug, daß Fürsten Menschen sind …?«). In dieser und anderer Weise hat Lessing mit seiner Emilia Galotti die Stimme erhoben gegen gesellschaftliche Vorurteile und festgefahrene Meinungen.
Die Lessing-Akademie hatte anlässlich des 250. Jahrestages der Uraufführung von Emilia Galotti in Braunschweig zu einer Lesung nach Wolfenbüttel eingeladen. Die Schauspielerin Susanne Maierhöfer brachte zusammen mit Manuel Zink, Geschäftsführer der Lessing-Akademie, Passagen aus Lessings Trauerspiel sowie zeitgenössische und aktuelle Stimmen zur Emilia Galotti zu Gehör. Die Lesung fand am 13. März 2022 in der Vita-Villa in Wolfenbüttel statt.

© Foto: Anna Schneider